Der Prozess des Sehens umfasst die Wahrnehmung optischer Reize durch die Augen, die Fortleitung elektrischer Signale über den Sehnerv in übergeordnete Zentren, sowie die Verarbeitung dieser Signale im visuellen Kortex. Eine Sehbehinderung kann daher durch strukturelle und funktionelle Störungen entlang der gesamten Sehbahn bedingt sein. Bei einem Patienten, der nicht sehen kann, weil die Verarbeitung afferenter Signale im zuständigen Bereich des Gehirns beeinträchtigt ist, wird die Diagnose kortikale Blindheit (KB) oder Rindenblindheit gestellt.
Der visuelle Kortex oder das Sehzentrum ist ein Teil des Okzipitallappens und besteht aus dem primären visuellen Kortex und übergeordneten Strukturen. Im primären visuellen Kortex wird abgebildet, was über die kontralaterale Retina an optischen Reizen wahrgenommen wird. Dabei gilt das Prinzip der Retinotopie, das heißt benachbarte Fotorezeptoren und Ganglienzellen der Netzhaut projizieren zu benachbarten Neuronen im primären visuellen Kortex. Entsprechend ergibt sich aus einer unilateralen Läsion des primären visuellen Kortex ein kontralateraler Visusverlust, der dem Anteil des Sichtfeldes entspricht, das für dessen Abbildung verantwortlich war. Zur KB kommt es bei umfassenden, bilateralen Ausfällen im primären visuellen Kortex.
Störungen der übergeordneten Zentren beeinflussen den Prozess der Abbildung der optischen Informationen nicht, beeinträchtigen jedoch das Erkennen und Zuordnen der Bilder zu Personen, Gegenständen, Begriffen und Erinnerungen. Diese Kondition wird als Agnosie bezeichnet und kann ebenfalls als eine Form der KB betrachtet werden.
Je nach Ätiologie der Funktionsstörungen im Sehzentrum können zudem kongenitale und erworbene, unvollständige, vollständige und erweiterte sowie transiente und permanente Formen der KB unterschieden werden:
Die Aufarbeitung eines solchen Falles beginnt mit einer detaillierten Anamnese sowie einer Allgemein- und ophthalmologischen Untersuchung. Die meisten KB-Patienten sind sich ihrer Blindheit bewusst, wobei Ausnahmen für Neonaten und Patienten mit Anton-Syndrom bestehen. Während in der Allgemeinuntersuchung Befunde erhoben werden können, die auf ein Trauma oder eine Grunderkrankung wie die zerebrale Ischämie hinweisen, zeigen sich die Augen des Patienten in der ophthalmologischen Untersuchung unauffällig [1]. Allerdings ist der Betroffene nicht in der Lage, den Blick auf Aufforderung in eine gewünschte Richtung zu lenken oder einem vorgehaltenen Objekt zu folgen. Der Anweisung, einen beliebigen Gegenstand im Raum zu beschreiben, kann nicht Folge geleistet werden. Manche KB-Patienten halluzinieren und beschreiben Dinge, die nicht existieren.
Zur Bestätigung der Diagnose und zur Identifikation der Ursache einer KB sind weitere Studien anzustellen, darunter eine Magnetresonanztomographie des Kopfes, um strukturelle Veränderungen darzustellen [2], eine Elektroenzephalographie, um abnorme Hirnströme im Okzipitallappen zu detektieren, und eine Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit, um Hinweise auf Infektionen des zentralen Nervensystems zu erhalten.